Harold en Italie


von Mascha Seitz

Hector Berlioz schrieb 1834 mit Harold en Italie („Symphonie en quatre parties avec un alto principal“, Op. 16 ­[H 68*]) seine zweite Symphonie. Das Humbert Ferrand gewidmete Werk sollte ursprünglich den Titel „Die letzten Augenblicke der Maria Stuart“ tragen und war zunächst als dramatische Fantasie für Orchester, Chor und Solo-Viola geplant. Dieser Plan wurde im Verlauf der Entstehung jedoch zugunsten einer viersätzigen symphonischen Komposition mit einem umfangreichen Part für die Solo-Viola verworfen.
Die Uraufführung erfolgte am 23.11.1834, mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire (im Druck wurde das Werk aber erst 1848 veröffentlicht). Die Solo-Viola spielte Chrétien Urhan (seinerzeit Bratschist, Geiger, Organist, und selbst Komponist), dirigiert wurde die Aufführung von Narcisse Girard (Dirigent, Geiger und ebenfalls Komponist).
 
Dieses Werk Berlioz' ist von herausragender Bedeutung für die Bratsche. Vor allem, da es zur Zeit der Entstehung kaum beachtenswerte Literatur für die Viola gab.
Berlioz schrieb 1843 in seiner „Instrumentationslehre“ über die Bratsche, die tiefen Saiten hätten einen „eigentümlich herben Klang“, während die hohen einen „traurig-leidenschaftlichen Ausdruck“ darbieten. Das Instrument sei besonders für „Szenen von religiösem und antikem Charakter“ geeignet. Passend also für die Thematik dieses Werkes (s.u.). Weiter schreibt er: „Von allen Instrumenten im Orchester ist die Viola dasjenige, dessen ausgezeichnete Eigenschaften man am längsten verkannt hat. (siehe auch Input hier...)
 
Geschichtlicher Hintergrund
Niccolò Paganini, der seinerzeit als größter Geigenvirtuose galt, bat Berlioz um ein Stück mit Bratschensolo. Er hatte damals eine Viola des Geigenbauers Stradivarius erhalten und suchte nun ein würdiges Stück für sein neues Instrument.
Berlioz, der in seiner Komposition vermeiden wollte, dass das Orchester in den Hintergrund rückt, ließ die Bratsche darin bisweilen über längere Strecken pausieren. Berlioz sagte selbst über sein Stück, dass er die Absicht hatte „eine Reihe von Orchesterszenen zu schreiben, in denen die Solo-Viola als mehr oder weniger aktiver Teilnehmer unter Beibehaltung ihres eigenen Charakters involviert sein würde […]“. Das war jedoch nicht im Sinne Paganinis. Nachdem er den ersten Satz zu sehen bekam, soll er gesagt haben: „Das geht nicht! Ich schweige hier viel zu lange, ich muss immerfort zu spielen haben!“ Enttäuscht trennten sich die Wege der beiden musikalischen Genies. (siehe auch Werk «Harold en Italie» hier...)
Vielleicht ist hier die Ursache dafür zu finden, wieso im Lauf der vier Sätze die Bedeutung der Solo-Bratsche mehr und mehr abnimmt.

Erst 1838 hörte Paganini sein Auftragswerk. Vor Überwältigung zog er Berlioz auf die Bühne und küsste ihm kniend die Hand. Die Szene wurde damals in einem Kupferstich verewigt (siehe Bild). Zwei Tage später übergab Paganinis zwölfjähriger Sohn Achille Berlioz einen Brief: „Mio caro amico, Beethoven konnte nur in Berlioz wieder aufleben; und ich, der ich Ihre göttlichen Kompositionen genossen habe, die eines solchen Genies würdig sind, halte es für meine Pflicht, Sie zu bitten, als Zeichen meiner Ehrerbietung 20.000 Francs annehmen zu wollen, die Ihnen durch den Baron von Rothschild überwiesen werden.“ Zum Vergleich, Berlioz hatte für sein Requiem im vorigen Jahr 3.000 Francs Honorar erhalten.

Hector (Berlioz) en Italie
Hector Berlioz selbst hatte 1831/32 Italien für 15 Monate bereist. Nach Italien brachte ihn der „Prix de Rome“ des
Pariser Conservatoire, den er für seine Symphonie Fantastique erhielt. Der Preis sah ein Stipendium und ein Aufenthalt in der Villa Medici vor.
Während seiner Zeit in Italien brachten ihn seine langen Wanderungen der Musik der einfachen Leute näher. Über den Einfluss der Reise auf Harold en Italie schrie
b er in seinen Memoiren: „Ich wollte die Bratsche in den Mittelpunkt der poetischen Erinnerungen stellen, welche ich von meinen Streifzügen in den Abruzzen behalten hatte […]“.

Bezug zu Lord Byron's „Ritter Harold's Pilgerfahrt“
Die Gedichte Lord Byron's begleiteten Berlioz auf diesen Streifzügen und seiner gesamten Zeit in Italien. Es entstand während dieser Zeit „Lélio ou le Retour à la vie“, ein Stück, das durch Byrons Werke inspiriert wurde. Außerdem entstanden die ersten Skizzen zur Ouvertüre „Le Corsaire“ (nach Byrons Gedicht „The Corsair“). 
 
Die Charakteristik Harolds, welche die Viola verkörpert, sollte laut Berlioz der eines „melancholischen Träumers in der Art von Byrons Harold“ entsprechen. Bezug nimmt er hier auf die Romanze „Ritter Harold's Pilgerfahrt“.
Die folgenden Zeilen aus dem dritten Gesang der Romanze ermöglichen uns, einen Eindruck des Helden-Typus zu bekommen, der in der Romantik immer wieder auftaucht und besonders in Lord Byrons Werken zu finden ist. Melancholisch, sensibel, im Widerstreit mit der Gesellschaft, mit dem Wunsch, den Qualen des bürgerlichen Daseins zu entfliehen und mit dem Drang, eins zu werden mit der Natur.

Ich lebe nicht in mir allein, ich werde
Ein Theil von dem, was mich umgibt: mir schenkt
Das Hochgebirg' ein Hochgefühl, die Fährte
Der Städte aber mich in Qual versenkt;
Nichts hat Natur, was mich verletzt und kränkt,
Als daß ein Glied ich dieser Fleischeskette,
Geknüpft an Menschen, wenn's die Seele drängt
Nach Berg und Wolken, nach der Wogen Bette
Und mit der Sternenschaar zu kreisen in die Wette.

 
Inhalt der vier Sätze
Der erste Satz „Harold aux montagnes“ spielt in den Bergen. Die gemischten Gefühle Harolds werden durch das langsam, melancholisch gespielte Hauptthema (die Eröffnungsmelodie der Viola) und den späteren lebhaften Sonatensatz skizziert. In Byrons Zeilen wird die Vereinnahmung Harolds durch die Schönheit der Natur deutlich.
 
Im zweiten Satz „Marche des pèlerins“ trifft Harold auf eine Gruppe von Pilgern. Langsam integriert sich die Bratsche in den „Gesang der Pilger“, der als Crescendo Gestalt annimmt, und klingt langsam aus, als würde der Pulk weiterziehen.
 
Im dritten Satz „Sérénade“ kommt eine Liebesszene vor – jemand spielt in den Abruzzen eine Serenade für seine Geliebte. Harold wird, wenngleich er der Verbindung zu den Menschen entfliehen möchte, mit der Macht der Liebe („That tender mystery“, wie es im Originaltext heißt) konfrontiert.
Berlioz merkte zu dem dritten Satz an: „Ich habe dann die ,Pifferari‘** in ihrer Heimat gehört, und wenn ich sie schon in Rom so bemerkenswert gefunden hatte, wie viel stärker war die Gemütsbewegung, die ich von ihnen in dem wilden Gebirge der Abruzzen empfing, wohin meine Wanderlust mich geführt hatte!“ Die Pifferari lässt Berlioz in seiner Symphonie durch Oboe, Piccoloflöte und mithilfe der Dudelsack imitierenden Borduntöne der geteilten Bratschen erklingen.

Im vierten Satz „Orgie de brigands“ gerät Harold dann unter die Räuber.
Anders als bei Byrons „The Corsair“ oder Scotts „Rob Roy“, zu denen Berlioz eine Ouvertüre geschrieben hatte, sind die hiesigen Räuber keine edlen Gestalten, die gegen die Schattenseiten der Gesellschaft rebellieren. Stattdessen beschreibt Berlioz seinen vierten Satz als eine „rasende Orgie, wo der Rausch des Weines, des Blutes, der Freude und des Zorns zusammenwirken, wo der Rhythmus bald zu stolpern, bald wild vorwärts zu drängen scheint, wo wie aus metallenem Munde Flüche geschleudert werden und Gotteslästerungen auf flehende Stimmen antworten, wo man lacht, trinkt, schlägt, zerbricht, tötet, schändet und sich schließlich amüsiert […], während die Solobratsche, der Träumer Harold, erschrocken fliehend, in der Ferne noch einige zitternde Töne seines Abendliedes hören lässt.“
Die Bratsche lässt zu Beginn den Kontrapunkt des Fugenthemas erklingen, entsinnt sich dann des Prozessionsgesangs und der Sérénade, der Melodik des Allegro, und ihres Referenzthemas aus dem Adagio. Dann schweigt die Bratsche bis zum Ende des Satzes, wo sie erneut den Prozessionsgesang erklingen lässt.

Adolf Nowak schreibt dazu in „Fluchtpunkt Italien“:
„Bei Berlioz zeigt sich, wie der Protagonist in Gestalt der Solo-Bratsche anderes vorfindet als das, was er selbst einbringt; es sind Erscheinungsformen dessen, worüber nicht verfügt werden kann: das aus den gewohnten Zusammenhängen »Enthebende« des Gebirges, der Religion, der Liebe, schließlich auch das Entsetzende des Bösen. Ebenso wird musikalisch vorgeführt, wie er sich dem jeweils zu Erfahrenden angleicht: der räumlichen Weite durch »sein« Thema, den Gläubigen und Liebenden durch sein Kontrapunktieren und sein Einstimmen in deren eigene Melodik, dem Übel allerdings, trotz faszinierender Präsentation, durch Nicht-Einstimmen und durch Reflexion des vorangegangenen Guten.“

Allzu eng hielt sich Berlioz nicht an seine literarische Vorlage. Wichtig war die Stimmung, der Charakter und das Gefühl, das seinen Harold en Italie mit dem Held Byrons verband. Wenn aber im ersten Satz die Harfe erklingt, zeigt sich der Bezug zu „Ritter Harold's Pilgerfahrt“:

Als aber tief die Sonn’ im Westen schien,
Griff er zur Harfe, die er wohl zu Zeiten
Anschlug zu kunstlos schlichten Melodien,
Wann fremdes Ohr nicht lauschte.


Aufführungen und Überarbeitung
Obwohl die oben erwähnte Uraufführung ein voller Erfolg war, entschloss Berlioz daraufhin, künftig selbst seine Stücke zu dirigieren.

Am 4. Februar 1937 bestritt Lionel Tertis als Solist seinen letzten öffentlichen Auftritt. Mit dem BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Ernest Ansermet wurde Harold en Italie aufgeführt.

1944 erfolgte die erste Studioaufnahme durch das Boston Symphony Orchestra mit William Primrose als Solist. Es dirigierte Serge Koussevitzky.
 
Harold en Italie wurde 1836 von Franz Liszt für Klavier, begleitet durch Viola, überarbeitet.

Quellen:
https://www.ndr.de/orchester_chor (PDF)
https://en.wikipedia.org/wiki/Harold_en_Italie
http://gutenberg.spiegel.de/buch (Buch einsehen)
https://de.wikipedia.org/wiki/Pifferari

Fluchtpunkt Italien: Festschrift für Peter Ackermann, herausgegeben von Johannes Volker Schmidt und Ralf-Olivier Schwarz
http://www.viola-in-music.com/Harold-in-Italy
http://www.helmut-zenz.de/berlioz

 

* Dallas Kern Holoman, Catalogue of the works of Hector Berlioz, (= Hector Berlioz. New edition of the complete works, Bd. 25), Kassel u.a. 1987, S. 138 ff.

** Pifferari: Mit Schalmei, Dudelsack und monotonem Gesang musizierende Hirten aus den Abruzzen, die zur Weihnachtszeit in Rom vor den Marienbildern musizierten
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