Es ist erstaunlich, dass zu den bekanntesten und meistgespielten Violakonzerten des 18. Jahrhunderts heute eine Komposition gehört, die weder original, noch als besonders gelungene Stilkopie zu bewerten ist. Es ist schon seit geraumer Zeit bekannt, dass es sich bei dem Johann Christian Bach zugewiesenen Violakonzert in c-Moll sowie bei dem Georg Friedrich Händel zugewiesenen Violakonzert in h-Moll um Fälschungen von Henri Casadesus handelt. In dem Aufsatz «Apokryph, Plagiat, Korruptel oder Falsifikat» (in:
Die Musikforschung, 20. Jg., Heft 4, Kassel 1967, S. 413-425) stellt Walter Lebermann unmissverständlich klar, dass die Konzerte keinen Bezug zu den Komponisten des 18. Jahrhunderts haben. Außerdem kann sich Lebermann auf eine Auskunft der Witwe von Henri Casadesus berufen, die die Fälschungen ihres Mannes bestätigt.
Dennoch hat sich vor allem das Konzert von J. C. Bach im Konzertleben fest etabliert. Die Ursachen dafür sind allerdings weniger mit der besonderen Qualität der Komposition zu begründen, die genaugenommen so gut wie keine Ähnlichkeiten mit Bachs Kompositionsstil aufweist, sondern eher mit dem Wunsch, das schmale Violarepertoire des 18. Jhts. zu bereichern, was durchaus nachvollziehbar ist. Man muss auch berücksichtigen, dass die Fälschungen in einer Zeit aufkamen, in der man kaum Zugang zu den Originalquellen hatte und über viele uns heut landläufig bekannte Komponisten so gut wie nichts wusste. Der Ansatz, Unbekanntes auf diese Art bekannt zu machen, erscheint uns heute höchst fragwürdig, trug aber mit Sicherheit zu einem wachsenden Interesse an bestimmten Werken oder Komponisten bei.
Im Falle des Violakonzerts in c-Moll (das auch in Fassungen für Violine bzw. Violoncello kursiert) sollte es sich um eine 1768 in London entstandene Komposition handeln, die laut Vorwort der Erstausgabe von 1947 bei Salabert als ursprüngliche Fassung für «Viole, Violoncello, Viola ou Viola Pomposa avec essai d'accompagnement de Piano à marteaux» vorlag, und die Henri Casadeus 1916 von Camille Saint-Saëns, dem Ehrenpräsidenten der Société des Instruments Anciens, einer Institution, die sich der Förderung der Alten Musik verpflichtete und die Casadesus 1901 gegründet hatte, erhielt. Casadesus will dann das Werk «rekonstruiert» und mit Harmonien versehen haben, während sein Bruder, Francis, die Orchestrierung besorgte.
In dem Briefroman
Das Gesetz des Irrsinns beschreibt Dieter Kühn seine ersten Eindrücke von dem Konzert in c-Moll: «Und ich selber, als Rezipient? Ich bin nicht resistent gegenüber Fälschungen. Zwar höre ich viel Musik, auf Tonträgern wie in Konzerten, zwar habe ich hin und wieder einen Essay über Musikrezeption geschrieben, habe gelegentlich eine Musiksendung moderiert im WDR oder SWR – und doch war (und bin) ich begeistert über ein Viola-Konzert, das Johann Christian Bach zugeschrieben wurde.
Vor zwanzig, dreißig Jahren hatte ich es (zum ersten und einzigen Mal) im Funk gehört, hatte es vielleicht auch mitgeschnitten auf Tonband [...]. Noch jetzt [...] habe ich das Eröffnungsthema des Bratschenkonzerts im Kopf, es gehört zum festen Bestand der Musik-Erinnerungen. Der zweite und dritte Satz haben allerdings keine Spuren hinterlassen.
Das Thema des ersten Satzes klingt freilich wie ein Echo auf das Werk von Urvater Bach und nicht auf Werke seines Sohnes Johann Christian. Ich habe mich in dessen Œuvre (wie in das seines Bruders Carl Philipp Emanuel) eingehört, im Lauf von Jahren, und muss konstatieren: Die beiden genannten Söhne haben, in Symbiosen mit ihrer Zeit, jeweils einen eigenen, neuen Stil entwickelt. [...]
Hätte ich damals schon Musik von Johann Christian Bach im Ohr, im Kopf gehabt, so wäre mir, hoffentlich, der krasse Stilunterschied aufgefallen. Erst recht hätte Experten, Musikwissenschaftlern die Zuschreibung auffallen müssen: Kann stilistisch nicht vom Londoner Bach stammen, was ist da los?!
Nun, es liegt eine Fälschung vor. Und zwar, das muss ich gleich betonen: Eine Fälschung, die mir auf Anhieb gefiel und mir weiterhin gefällt, obwohl ich längst weiß ... [...].
Zum Tathergang und Tatbestand: Es ist seit Jahrzehnten bekannt, dass Henri Casadesus, Geiger aus der Casadesus-Musikerdynastie, dieses Konzert kreiert hat. [...] Problem ist nur: das Repertoire an Kompositionen für die Bratsche ist eng. So wurde es von Henri Casadesus klammheimlich erweitert.
Und wie verhält sich die Musikbranche nach der Enttarnung? Diese Frage hole ich nach und staune: Das Werk hat noch Präsenz! Auf YouTube einige Mitschnitte von Konzertaufführungen, vor allem im östlichen Europa, interpretiert von Bratschern, deren Namen mir fremd sind, deren Interpretationen überzeugen. Da klingt der Eröffnungssatz genauso frisch, wie ich ihn in Erinnerung behalten habe, zumindest fragmentarisch.
Der langsame Satz hingegegen hat sich, wie schon angedeutet, nicht weiter eingeprägt. Hier lautet die Satzbezeichnung: Adagio molto espressivo. Das klingt eher nach 19. als nach 18. Jahrhundert! Aber Bratscher werden hier bestens bedient: viele Sequenzen in den tiefen Lagen des Instruments, satter Sound lässt sich entfalten.
Ist diese Musik, obwohl als Fälschung längst entlarvt, nicht kleinzukriegen? Nein, das Werk liegt sogar im Druck vor. Das Titelbild wird von Amazon reproduziert: Violakonzert 'im Stil von J. C. Bach'. Henri Casadesus wird gleichfalls genannt, als 'Herausgeber'. So zieht man sich aus der Affaire.»
(Siehe Dieter Kühn,
Das Gesetz des Irrsinns, Frankfurt am Main 2013, S. 474-476.) – Und man möchte hinzufügen, dass auch Verlage wie Edition Peters das Konzert mit einer irreführenden, bzw. tradierten Titelzuweisung anbieten:
http://www.edition-peters.de/product/konzert-fur-viola-und-orchester-c-moll/ep8878
Dass das Werk heute im Lehrbetrieb und Konzertleben noch immer diesen einflussreichen Stellenwert einnimmt, ist kaum noch verständlich, denn inzwischen liegen viele Originalkompositionen des 18. Jhts. in modernen Editionen vor, die allein durch ihre Überlieferung, aber auch qualitativ weit über Casadesus' Werk stehen. Anderseits kann das Werk auf eine gewisse Aufführungstradition zurückblicken, die den Konzertunternehmern offenbar einen nicht zu vernachlässigenden Absatz garantiert. (Siehe auch:
https://theviolaexperiment.wordpress.com/2013/03/30/j-c-bach-concerto-in-c-minor/ oder
http://www.americanviolasociety.org/PDFs/Journal/JAVS-2_2.pdf [S. 10-16] und Ernest Warburton,
Thematic Catalogue [= The collected works of Johann Christian Bach, Bd. 48/1], New York 1999, Nr. YC 98, S. 573.)
Das Orchester ist übrigens folgendermaßen besetzt: 2 Fl., 2 Ob., 2 Fag., 2 Hn., 2 Tr., Pk. und Streicher.