Paul Hindemith



Von Leben, Werk und Wirkung
Teil I


„Wenn man zu einem Schneider geht, will man nicht sein Bild oder seine Photographie, sondern einen gut gemachten Anzug. Wenn sich jemand mit mir beschäftigen will, soll er meine Werke ansehen.“
Dieses Hindemith-Zitat könnte fast abschreckend wirken, wenn man sich mit der Biografie des Künstlers beschäftigen will. Dennoch wollen wir neben seinen Werken auch einen Blick auf die persönlichen Hintergründe des Komponisten werfen, der im 20. Jahrhundert wie kaum ein anderer das Repertoire für Bratschisten bereichert hat.
 
Kindheit und Jugend
Am 16. November 1895 erblickte Paul Hindemith das Licht der Welt. Sein Vater, Robert Rudolf Hindemith, arbeitete nach erfolgter Malerlehre als Anstreicher. Seine Mutter, Marie Sophie Hindemith, half in anderen Haushalten aus, um den Lebensunterhalt für Paul und seine jüngeren Geschwister Antonie und Rudolf zu sichern. 1900 zog die Familie von Rodenbach bei Hanau nach Mühlheim am Main. 1905 erfolgte der Umzug nach Frankfurt am Main.
Der Vater Paul Hindemiths habe selbst Musiker werden wollen, was jedoch von dessen Vater nicht gebilligt worden sei. Daher rührte wohl sein Engagement, den eigenen Kindern von klein auf eine musikalische Erziehung zu ermöglichen. Paul (Violine), Antonie (Klavier) und Rudolf (Cello) traten früh unter dem Namen „Frankfurter Kindertrio“ auf und erhielten viel Lob und Bewunderung.

Studium am Hoch'schen Konservatorium, erste Anstellungen
Die Volksschule schnitt Paul mit 14 als Klassenbester ab. Eine weitere schulische Bildung überstieg die finanziellen Möglichkeiten der Familie. Durch die Vermittlung seiner früheren Geigenlehrerin, der schweizerischen Anna Hegner an Adoph Rebner, ermöglichte letzter Hindemith ein Stipendium. So begann er im Wintersemester 1908/09 sein Musikstudium am Hoch'schen Konservatorium in Frankfurt.
Zunächst besuchte er nur Rebners Violinklasse. Später studierte er auch bei Arnold Mendelssohn (Kompositionslehre), Bernhard Sekles (Kompositionslehre), Karl Breidenstein (Partiturspiel) und Fritz Bassermann (Dirigieren). Den Schwerpunkt legte Hindemith jedoch auf das Instrumentalstudium. Nicht zuletzt, da er durch Privatunterricht, Konzerte und die Vertretung Rebners bereits früh einen finanziellen Beitrag für seine Familie leistete.
Schon zu seiner Studienzeit, 1913 erhielt er seine erste Anstellung als Konzertmeister beim Orchester des „Neuen Theaters“ Frankfurt. Mit 19 Jahren wurde er zum zweiten Konzertmeister und ersten Geiger der Frankfurter Oper berufen. Ab dem Frühjahr 1916 übernahm er die Stelle des ersten Konzertmeisters. Er profitierte als musikalischer Tausendsassa zeitlebens von seinem absoluten Gehör.
 
Die ersten kompositorischen Erfolge
1915 erhielt er für die Einreichung seines „Streichquartetts in C-Dur“ op. 2 einen Preis der Felix Mendelssohn-Bartholdy Stiftung. Im selben Jahr erhielt er bei einem Wettbewerb (Joseph-Joachim-Preis) eine hochwertige Geige.
Es erfolgte die Aufnahme in das Quartett seines Lehrers Adolph Rebner. Dieses verließ er 1921, nach Unstimmigkeiten mit Rebner. Hauptgrund für das Zerwürfnis war das Repertoire des Rebner-Quartetts, welches dem jungen, modernen Hindemith zu altmodisch war.

Der Erste Weltkrieg
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges, Sommer 1914, hielt sich Hindemith als Geiger einer Kurkapelle in der Schweiz auf. Zu dieser Zeit war Hindemith noch kriegsbegeistert. Er schrieb in einem Brief: „Wenn ich vom Beginn des Krieges hier gewesen wäre, stünde ich schon längst in Frankreich, so aber habe ich anstatt der Deutschen Begeisterung die Schweizerische Aufregung mitgemacht und dadurch versäumt, mich dem Vaterland zu stellen.“
Im Jahre 1915 fiel der Vater Hindemiths an der französischen Front, nachdem er sich mit 44 Jahren freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte. 1917 wurde Paul Hindemith dann selbst eingezogen und nach anfänglicher Stationierung in Frankfurt, 1918 im Elsass als Militärmusiker eingesetzt. Hier erlebte Hindemith die Grauen des ersten Weltkrieges, er überstand ihn jedoch unbeschadet.

Das Frühwerk
„Ich hatte wohl immer geschrieben, aber erst nachdem ich neben meiner Tätigkeit als Instrumentalist Berge von Notenpapier verbraucht hatte und nachdem einige meiner Versuche im Druck erschienen waren, begann ich etwa mit 24 Jahren, an mein Kompositionstalent zu glauben.“
Von seinem Frühwerk wurden kaum Stücke zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Er selbst kommentierte sein Frühwerk später als „altmodisches Zeug“ und „absolut ungenießbar“. Die meisten Stücke wurden erst aus dem Nachlass, zehn Jahre nach dem Tode Paul Hindemiths veröffentlicht.
1919 begann die erste Zusammenarbeit mit dem Schott-Verlag, dem einzigen Verlagshaus, mit dem Hindemith gearbeitet hat. 1922 wurde ein Vertrag geschlossen, der für Hindemith ein monatliches Honorar vorsah, woraufhin er seine Anstellung als Konzertmeister der Frankfurter Oper aufgeben konnte.

Die goldenen Zwanziger, Amar-Quartett, Expressionismus und die Ehe
In den 20er Jahren gestaltete Hindemith mit dem Amar-Quartett (benannt nach dem ersten Geiger Licco Amar, auch wenn Paul Hindemith bereits damals das prominenteste Mitglied war) die Landschaft zeitgenössischer Musik entscheidend mit. Rudolf Hindemith, Pauls Bruder, war zeitweise als Cellist teil des Amar-Quartettes.
Später wurde auch Rudolf Hindemith Dirigent und Komponist, wenngleich nicht so erfolgreich wie sein älterer Bruder.
Im Amar-Quartett spielte Paul Hindemith die Bratsche und galt schon in den 20er Jahren als einer der besten Bratschisten weltweit. Das Amar-Quartett war weit über die deutschen Grenzen hinaus tätig und verhalf oftmals zeitgenössischen Stücken zur Uraufführung. Am  meisten Aufmerksamkeit bekam es allerdings, wenn Hindemiths eigene Stücke aufgeführt wurden. Ein Kritiker schrieb hierzu 1927: „Hindemith schreibt für seine Bratsche, sein Quartett, das es ihm in jeder Hinsicht gleich tut, nur dass seine Bratschenstimme manchmal wie eine Schlange durchs Ensemble zuckt und alles mitreißt. Die Folge ist, dass die Künstler ihre Stücke, ohne dass ein Nötchen verloren geht, in einem Tempo vortragen können, dass einem schwindlig wird. Z.B. könnte der erste Satz „Streichtrios“ op. 34 auch bescheidener vorgetragen werden, dann würde sich erweisen, dass das Stück eigentlich recht hübsch ist.“
Sein Wirken im Amar-Quartett beendete Hindemith 1929. Zu diesem Zeitpunkt war er international sowohl als Komponist, als auch als Interpret von Weltrang anerkannt.
1923 ließ er einen mittelalterlichen Turm, den Kuhhirtenturm in Frankfurt, als Wohnung renovieren. Finanzieren konnte Hindemith dies durch einen besonderen Kompositionsauftrag. Er komponierte für den österreichischen Pianisten Paul Wittgenstein die „Klaviermusik mit Orchester (Klavier: linke Hand)“ op. 29. Wittgenstein hatte im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren, er führte das Stück selbst jedoch nicht auf. Erst 2004 erfolgte die Uraufführung bei den Berliner Philharmonikern.
In dem Kuhhirtenturm lebte er mit seiner Schwester, seiner Mutter und später seiner Frau. Der Turm wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Heute befindet sich darin das „Hindemith Kabinett im Kuhhirtenturm“, welches vom Hindemith Institut eingerichtet wurde.
1924 heiratete Paul Hindemith Johanna Gertrude Rottenberg. Gertrude, welche als Schauspielerin und Sängerin ausgebildet war, unterstützte Hindemith zeitlebens bei seinem künstlerischen Schaffen. Sie begann auch nach dem Tode Hindemiths mit der Archivierung seines Lebenswerks. Die Ehe blieb kinderlos.
Seine frühen Kompositionen der 20er Jahre sind teilweise sehr expressionistisch und einige lösten bei ihren Aufführungen Skandale aus. So zum Beispiel die Aufführung des „Lehrstücks“ (eine Kooperation mit Berthold Brecht), bei der ein Mensch in Stücke zersägt wird oder der anzügliche Einakter „Sancta Susanna“, der zweite Teil eines Tryptichons, der vom ersten Teil „Mörder, Hoffnung der Frauen“ (nach Oskar Kokoschka) und dem dritten Teil „Nusch Nuschi“ eingerahmt wird.

Der Umzug nach Berlin
1927 erhielt Hindemith eine Professur für Komposition an der Berliner Hochschule für Musik, ab 1929 unterrichtete er auch an der neuen Musikschule Neukölln.
In Berlin zogen Paul und seine Frau Gertrud Hindemith in eine neue Siedlung im Berliner Westend. Hindemith schloss hier Freundschaften mit anderen Künstlern. Darunter Igor Strawinsky und Franz Schreker. Er lernte auch zahlreiche bedeutende Schriftsteller kennen, hierunter Berthold Brecht, Carl Zuckmayer oder Alfred Döblin. Es folgen künstlerische Zusammenarbeiten. Hier in Berlin machte Hindemith den Führerschein, er lernte Mathematik und Latein und entwickelte eine Begeisterung für Sport.
Nachdem 1929 seine Tätigkeit im Amar-Quartett beendet war, spielte Hindemith in einem Streichtrio zusammen mit Emanuel Feuermann und Joseph Wolfsthal, der nach seinem Tode durch Szymon Goldberg ersetzt wurde. Oft spielte Hindemith nun als Solist bei Orchesterkonzerten, was auch seine Kompositionsarbeit von Solokonzerten für die Bratsche beflügelte. So entstanden zum Beispiel seine „Kammermusik Nr. 5“ op. 35, die „Konzertmusik für Solobratsche und größeres Kammerorchester“ op. 48.
Als Solist spielte er 1929 die Uraufführung des Bratschenkonzerts von William Walton. Zur selben Zeit widmete ihm Darius Milhaud sein Bratschenkonzert, welches er ebenfalls uraufführte. Aber auch als Komponist war Hindemith gefragt. So erhielt er in dieser Zeit Kompositionsaufträge für den Frankfurter Rundfunk, das Elizabeth Sprague Coolidge Festival in Washington und das 50-jährige Jubiläum des Boston Symphony Orchestra.

„Donaueschinger Musiktage“ und die „Deutsche Kammermusik Baden-Baden“
Ein wirklicher Schub für Hindemiths Karriere und die des Amar-Quartetts waren die „Donaueschinger Musiktage“, bei denen er mehrere seiner Stücke uraufführte. Die Aufführung seines 3. Streichquartetts op. 16 (mit dem Amar-Quartett), 1921, machte Hindemith weitgehend bekannt. Ab 1923 war Hindemith auch im Musikausschuss der „Donaueschinger Musiktage“ beschäftigt. Diese erfuhren 1927 einen Ortswechsel und hießen fortan „Deutsche Kammermusik Baden-Baden“, wo 1929 unter dem Leitthema Originalmusik für den Rundfunk eine Kooperation Hindemiths mit Berthold Brecht und Kurt Weill aufgeführt wurde, der „Lindberghflug“.
Die Zusammenarbeit mit Hindemith beim „Lindberghflug“ bezeichnete Brecht später als ein „Missverständnis“. Zunächst hatten Weill und Hindemith jeweils zu gleichen Teilen die Musik zur Uraufführung geschrieben, Weill vertonte jedoch in der Folge auch Hindemiths Passagen.  Zum Zerwürfnis zwischen Hindemith und Brecht kam es dann 1930, als der Programmausschuss des Festes „Neue Musik Berlin 1930“ - zu dem Hindemith gehörte - ein politisches Stück von Eisler und Brecht mit der Begründung ablehnte, dass der Fokus der Festivität im Musikalischen liege. Brecht und Eisler bezeichneten die Entscheidung des Programmausschusses als politische Zensur.

Vom Komponieren zwischen Expressionismus, Sachlichkeit und Gebrauchsmusik
Hindemith teilte seine Musik wie folgt ein.
„Man wird immer zwischen zwei entgegengesetzten Arten des Musizierens unterscheiden: Vorspielen und Selbstspielen. Vorspielen ist der Beruf des Musikers, Selbstspielen Beschäftigung für den Laien.“
Letztere nannte er „Gebrauchsmusik“. So versteht sich auch sein Vorwort zur Kantate „Frau Musika“ op. 45, Nr. 1: „Die Musik ist weder für den Konzertsaal noch für den Künstler geschrieben. Sie will Leuten, die zu ihrem eigenen Vergnügen singen und musizieren, oder die in einem kleinen Kreis Gleichgesinnter vormusizieren wollen, interessanter und neuzeitlicher Übungsstoff sein.“
Diesen Stilwechsel in der Art des Komponierens bezeichnete Frau Dr. Schaal-Gotthardt, Direktorin des Hindemith Instituts Frankfurt, als „Konsolidierung der kompositorischen Mittel […] was in den frühen 1920er Jahren wild und ungestüm daherkommt (z.B. das „Finale 1921“ aus der Kammermusik Nr. 1 op. 24 Nr. 1), ist später stärker strukturiert, auch tonal wieder stärker fundiert“.
Angestoßen wurde dieser Richtungswechsel durch sein Werk „Das Marienleben“ op. 27 (nach Rainer Maria Rilke). Hierzu kommentierte er „Ich habe die Stücke sehr gern und bin froh, dass sie mir so gut gelungen sind. Ich bin sicher, dass sie bis jetzt das Beste von mir sind...“
Später sagte er darüber „Der starke Eindruck, den schon die erste Aufführung auf die Zuhörer machte – erwartet hatte ich gar nichts –, brachte mir zum ersten Male in meinem Musikerdasein die ethischen Notwendigkeiten der Musik und die moralischen Verpflichtungen des Musikers zum Bewusstsein.“
Diese Erkenntnisse mündeten in eine Schaffensphase Hindemiths, die als „neue Sachlichkeit“ bezeichnet wird. Anstelle des Exzentrischen und Provokativen trat nun eine Nüchternheit, eine Formalität in der Musik auf, die sich in das gesellschaftlich-kulturelle Geflecht seiner Zeit einfügte. Ein Stück, das als Beispiel für die „neue Sachlichkeit“ genannt werden kann ist die „Kammermusik Nr. 5 op. 36 Nr. 4, auch Bratschenkonzert genannt.
 
Lesen Sie bald auf diesem Blog Paul Hindemith - von Leben, Werk und Wirkung, Teil II, über das Schaffen des Künstlers ab den 30er Jahren, die Konfrontationen mit dem Dritten Reich und die späteren Wirkungsstätten.


Quellen und weiterführe Literatur:
http://www.hindemith.info
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Flug_der_Lindberghs
https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Hindemith

Bilder:
Paul Hindemith in Uniform mit Geige 1918: http://www.hindemith.info/fileadmin/1
Das Amar Quartett mit Igor Strawinsky, 1924: http://www.hindemith.info/fileadmin/2
Paul Hindemith 1928: http://www.hindemith.info/fileadmin/3
 
Klangbeispiele Online:
Der Lindberghflug
https://www.youtube.com/watch?v=fvRyBWnxKl4
Musik: Kurt Weill & Paul Hindemith, Text: Berthold Brecht

Sonate für Viola und Klavier, op 11 Nr 4
https://www.youtube.com/watch?v=zzKs4JV9-qo
Viola: Juri Abramowitsch Baschmet, Klavier: Sviatoslav Richter, Moscow in 1985.


Teil 2
Hier geht es zum Teil II von Paul Hindemith «Von Leben, Werk und Wirkung» ...


Ein Blogartikel von Mascha Seitz
Bilder: © Fondation Hindemith, Blonay (CH)
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